Leseprobe aus Khyona 2

PROLOG

Menschen waren groß, ungeduldig und oft furchtbar schlecht in Musik. Doch hin und wieder vermisste Sija ihre Lieblingszauberin, die sie und die anderen Elfen im letzten Herbst durch kein Omen angekündigt besucht hatte. Leider war die Zauberin Kari war nicht lange geblieben und es war schade, dass seither niemand auch nur ein Haar von ihrem Kopf gesichtet hatte. Geschweige denn etwas von dem leckeren braunen Wunder, das sie dabeigehabt hatte.
„Eine Geschichte, eine Geschichte!“, bat Tuli, die Hände zierlich gefaltet, die großen mondfarbenen Augen im Abendlicht noch größer erscheinend. Die Langeweile war eine Krankheit, die Tuli öfter plagte als andere.
„Ach, ich übe lieber noch ein wenig auf der Grasharfe“, behauptete Sija und gab erst nach, als Tuli so tat, als wollte sie stattdessen Palo fragen. Hatte ihre Freundin schon vergessen, dass er vor hundertzehn Jahren, als sie gemeinsam unterwiesen worden waren, im Fach Fantasie jeden Lehrer enttäuscht hatte? Außerdem neigte er dazu, berechenbar zu sein, dabei wusste doch jeder, dass nur diejenigen Elfen in der Welt bestehen konnten, die dem Pfad des Schmetterlings folgten.
„Na gut“, sagte Sija und berührte ein paarmal ihr goldenes Menschenwunder-Ding um ihr Handgelenk, denn das brachte ganz sicher Glück und friedliches Wetter. „Ich werde eine Geschichte über die Lieblingszauberin erzählen! Über Kari Feuermädchen.“
„Eine Geschichte aus der Zeit, die vergangen ist, oder eine aus der Zeit, die noch vergehen wird?“, fragte Palo und balancierte auf dem Stein.
„Wirst du schon sehen“, gab Sija zurück, schubste Palo vom Stein herunter und setzte sich selbst darauf. „Feuermädchen wird schon sehr bald zu uns zurückkommen mit vielen, vielen Geschenken für uns, und dann wird sie Großtaten vollbringen, von denen sich das verborgene Volk noch jahrhundertelang erzählen wird!“
„Was für Großtaten?“, wollte Tuli wissen.
„Sie wird einen Drachen zähmen, einen Drachen, der so groß ist wie ein Berg“, behauptete Sija und reckte sich mit erhobenen Armen, um seine Größe anzudeuten. „Er wird ihr aus der Hand fressen und sich von ihr den Bauch kraulen lassen. Wenn sie auf ihm herabgefegt kommt, werden alle vor ihr zittern und sich neue Tänze für sie ausdenken, um sie zu beschwichtigen und ihrer Seele Heiterkeit zu bringen.“
Palo klatschte. „Wird ein Verräter versuchen, sie zu besiegen?“
„O ja, natürlich, denn Zauberer haben viele Feinde und müssen Wunder wirken ohne Zahl, zehn am Tag mindestens!“ Sija tanzte ein paar der Wunder, die sie mit Worten nicht beschreiben konnte, und spielte eine brandneue Melodie auf der Grasharfe dazu. „Aber zusammen mit ihrem Gefährten, dem Herrn des Feuers, wird sie in den Kampf ziehen und danach weiterleben bis zu ihrem hundertfünfundsiebzigsten Lebensjahr. Dann wird sie friedlich sterben durch eine Fischgräte, die ihr im Hals stecken bleibt.“
Palo und Tuli nickten zufrieden.
„Glaubt ihr wirklich, sie kommt wieder?“, fragte Tuli plötzlich.
„Nein“, sagte Palo.
„Doch“, sagte Sija fest. „Und sie wird diesen Drachen zähmen.“
„Fiii, du bist manchmal dumm wie Käferpisse!“, meinte Tuli und wirbelte davon, bevor Sija sie an den Haaren ziehen konnte. „Der Drache wird sie in einen Eisblock verwandeln und auffressen.“
Palo hob ruckartig den Kopf. „Es geschieht etwas“, sagte er.
„Oh!“ Sija hatte erspäht, was er meinte. „Das ist nicht gut, gar nicht gut ist das! Wann bemerken die Menschen endlich, was geschieht?“
In der Stadt der Nebel, die sich am Ufer erstreckte, ertönten die Widderhörner des Alarms.

1. Kapitel
REISEFIEBER

Sie standen am Rand der Klippe und rangen miteinander. Kari keuchend, verbissen, John mit wütenden Augen. Sie hatte es geschafft, ihn an der schwarzen Lederjacke zu packen, doch er war stärker als sie, schon ragten ihre Zehen über den Rand. Noch war nicht klar, wer wen in den Abgrund stoßen würde.
„Wusstest du, dass diese Schlucht dreihundertvierundzwanzig Meter tief ist?“, stieß John hervor und das regte Kari so auf, dass sie es plötzlich schaffte, ihn herumzureißen und über die Kante zu werfen. „Nein, und ich wollte es auch nicht wissen!“, schrie sie ihm hinterher …
… und schlug ihre Augen in der Dunkelheit ihres Zimmers auf. Noch ging ihr Atem rasch, ein kaltes Kribbeln lief über ihren Körper und ihr Herz schlug flach und schnell. O Gott, hatte sie das tatsächlich getan, ihren Patchworkbruder im Traum umgebracht? Besser, sie erzählte ihm das nicht. Andererseits fand er das vielleicht witzig.
Um sich zu beruhigen, tastete Kari nach dem dunkelroten, rauen Lavastein auf ihrem Nachttisch und umschloss ihn mit der Hand. Schon war die Erinnerung wieder da, wie Andrik ihn ihr gegeben hatte – eine Erinnerung, die sich anfühlte wie Sonnenschein auf der Haut. Oh dieser verdammte Typ, den sie manchmal anschreien und meistens küssen wollte … und der gerade so weit weg war.
Aber nicht mehr lange. In einer Woche begannen die Sommerferien, ihr Flugticket nach Island war längst gebucht. Endlich, endlich würde sie all ihre Freunde in Khyona wiedersehen, Andrik, Maéva, Bjarni, die Wildpferde … schon so oft hatte sie sich vorgestellt, was ihre Gefährten gerade taten, während sie selbst gezwungen wurde, Gleichungen zu lösen und Lyrik-Interpretationen zu schreiben.
Nur schade, dass ich wahrscheinlich nie herausbekommen werde, ob meine Urgroßmutter aus Isslar noch lebt, ging es Kari durch den Kopf. Jisha Ulim Thordar. Aus Isslar geflohen, aber dort immer noch Volksheldin.
Kari seufzte. Genauso offen ist, ob ich das magische Talent der Thordars geerbt habe. Beim planlosen Herumprobieren im Wald hatte sie es nicht mal geschafft, ein laues Lüftchen zu rufen, geschweige denn einen Sturm anzufachen.
Der WhatsApp-Chat glühte wegen der Reiseabsprachen zwischen allen, die diesmal dabei sein würden. Ping!, ping!, schon trafen neue Nachrichten ein.
Ella – Morgen, Freaks! Bin schon am Packen.
Leyla – WTF?! Ist noch ne Woche!
Ella – Ja, und? Wie viele Pullis nehmt ihr mit? Wie kalt ist das da, Kari?
John – Manchmal frieren einem die Nasenhaare ein, muss ich noch mehr sagen?
Leyla – LOL also ICH hab keine Nasenhaare!
Kari musste lächeln. John im Zimmer nebenan war also auch schon wach. Und anscheinend nicht im Bad. Das war ihre Chance! Sie schlurfte aus ihrem Zimmer und den Gang hinunter. Verdammt, jemand anders war schneller gewesen, das Bad war besetzt. Eindeutig ein Nachteil der Familienvergrößerung. Nie kann man sicher sein, dass man duschen darf, wenn man will.
Aber lange warten musste sie nicht, bis sie dran war, schon kam ihre dreizehnjährige Schwester in einem Schwall Dampf zum Vorschein und marschierte zu ihrem Zimmer zurück, um sich etwas anderes anzuziehen als ihr schwarzes Schlabber-T-Shirt mit dem angreifenden Tyrannosaurus Rex darauf.
„Und, ist noch Warmwasser übrig?“, fragte Kari.
„Wieso, ich dachte, du duschst jetzt kalt, um dich für den rauen Norden abzuhärten?“, schoss Alice grinsend zurück.
Kari versuchte, Alice zu schnappen und durchzukitzeln. Doch die war leider deutlich zu schnell für so was, Kari bekam ein feuchtes Handtuch ins Gesicht und war nun endgültig wach. Schnell wurde Alice wieder ernst und flüsterte ihr ins Ohr: „Na, freust du dich schon auf Isslar?“ Kari hatte ihr, wie versprochen, alles erzählt – die ganze, fast unglaubliche Wahrheit über die Woche, in der sie offiziell vermisst gewesen war. John hatte ebenfalls eine Zusammenfassung bekommen, als Dank dafür, dass er ihre Familie unter Lebensgefahr vor der Assassinin Cecily verteidigt hatte. Nur ihre Freundinnen wussten nichts, sonst wären zu viele Leute eingeweiht.
„Ja klar freue ich mich“, sagte Kari und schaffte ein verzerrtes Lächeln.
Der Widerspruch entging Alice nicht. „Was? So freut sich eine gemästete Gans, wenn man ihr sagt, dass bald Weihnachten ist!“
Kari versuchte zu erklären: „Na ja, es ist fast ein Jahr her. Vielleicht ist Andrik … ich meine, wie oft kann man an jemanden denken, der nicht da ist und mit dem man nicht mal eine Botschaft austauschen kann?“
„Der liebt dich noch – ganz sicher“, sagte Alice und tätschelte ihr die Schulter.
„Aber was ist, wenn er jemand anders kennengelernt hat?“, ächzte Kari.
„Dann ist er ein Volldepp und eh nicht der Richtige für dich“, versicherte ihre Schwester und kämmte sich die nassen, schulterlangen Haare – braun und glatt wie die eines Otters – mit den Fingern durch. „Und ich wette, er macht sich gerade die gleichen Sorgen wegen dir und fragt den Silberfalken täglich, ob du schon beim Grünen Tor gesichtet worden bist.“
„Wenn er überhaupt noch lebt … Andrik meine ich“, sagte Kari und spürte, wie ein Schauer sie überlief. „Bestimmt waren die Eisdrachen-Angriffe im Winter echt heftig, was ist, wenn er …“
Alice stemmte die Hände gegen die Hüften und blickte sie mit blitzenden Augen an. „Geht´s noch? Der Typ kann sämtliche Vulkane Islands gleichzeitig ausbrechen lassen, so ein mickriges Reptil juckt den doch nicht!“
„Eisdrachen sind nicht …“
„Du brauchst ganz dringend Frühstück. Nach einem Schoko-Müsli bist du bestimmt wieder normal.“
„Wer weiß?“, sagte Kari und musste schmunzeln. Alice hat recht, vielleicht ist das mulmige Gefühl in meinem Magen wenigstens zum Teil ganz ordinärer Hunger.
Beim Frühstück am großen Esstisch im Erdgeschoss schaute Kari John zu, der mit abwesender Miene und halb geschlossenen Augen an seinem eigenen Brot kaute. Er war nicht gerade ein Morgenmensch.
„Ich hab geträumt, dass ich dich umgebracht habe“, berichtete sie ihm. „Glatt über die Klippe gestoßen.“
John zog eine Augenbraue hoch. „Wofür? Was hatte ich getan?“
„Herumgeklugscheißert.“
„Also echt, wie realistisch ist das denn?“, sagte John, ohne eine Miene zu verziehen.
Alice prustete ihr Müsli auf den Untersetzer.
„Es war immerhin nicht ganz einseitig, du hast auch versucht, mich in die Schlucht zu werfen“, erklärte Kari und musste grinsen, als sie sah, wie ihre Mutter und Johns Vater Thorsten einen leicht beklommenen Blick tauschten.
„Moment“, sagte John und tippte etwas auf seinem Handy. „Muss ich notieren. Duell auf der Klippe. Kommt im Showdown meines Drehbuchs vielleicht ganz gut.“
„Ja bitte, lass mich deine Muse sein“, flachste Kari, nun schon etwas entspannter. Wieso hatte sie John am Anfang eigentlich nicht ausstehen können? Das war gefühlt hundert Jahre her.
„Habt ihr dem Hotel schon Bescheid gegeben, dass ihr spät anreist?“, erkundigte sich Thorsten. „Gut, dass Ella schon volljährig ist. Sag ihr, sie muss unbedingt eine Kreditkarte mitnehmen, die braucht man, wenn man ein Auto mieten will.“
„Mach ich“, versicherte ihm Kari und seufzte innerlich.
„Ich verstehe immer noch nicht ganz, wieso du ihr diese Reise erlaubt hast“, brummte Thorsten in Susannas Richtung und musterte Kari kritisch über den Rand seiner Zeitung. „Ich hätte gedacht, du lässt sie nie wieder aus den Augen oder nach Island, nachdem sie dort so lange vermisst war.“
Es machte Kari keinerlei Mühe, sich daran zu erinnern, warum sie mit Thorsten nie so recht warm geworden war.
Susanna lächelte, was ihr schmales, eckiges Gesicht einen Moment lang weicher wirken ließ. „Na ja … was passiert, wenn man junge Leute festbindet?“
„Kommt drauf an, ob man ihnen das Smartphone danebenlegt“, sagte John. „Und genug zu essen natürlich. Und damit meine ich nicht Brokkoli-Auflauf.“
„Absolut!“, sagte Alice. Den Brokkoli-Auflauf mit Tofu, eine Kreation von Susanna, hatte es gestern zum Abendessen gegeben, und er war von mehreren Mitgliedern der Familie nicht mit Begeisterung aufgenommen worden. Nur Thorsten hatte es geschmeckt.
„Apropos Smartphone“, mischte sich Kari ein. „Mam, hast du mir den Link zu dieser Psychologin rausgesucht, bei der ich damals war? Anna Burgsoll?“ Sie wollte mit dieser Frau sprechen, die sie damals als Kind so lange behandelt hatte. Wollte mehr über diese Wut erfahren, die manchmal so plötzlich in ihr hochschoss und ihr das Leben nicht leichter machte.
„Vielleicht ist es keine schlechte Idee, dass du deine traumatischen Erfahrungen in Island noch mal mit professioneller Hilfe …“, begann Thorsten.
„Sie fand es doch gar nicht traumatisch“, protestierte Alice.
Ihre Mam hörte Thorsten gerade nicht zu, was Kari sehr erfrischend fand nach den endlosen ersten Monaten, in denen sie nur Augen für ihren neuen Freund gehabt hatte. „Moment, ich schicke dir den Link – leider hat sie ihre Praxis anscheinend geschlossen, das steht auf der Startseite. So, voilà!“
Es war reiner Zufall, dass Kari sich noch kurz die Zeit nahm, auf die Website zu gehen, bevor sie sich ihren Schulrucksack über die Schulter warf. John und Alice zogen sich schon die Jacken über und diskutierten, wieso in letzter Zeit so oft die erste Stunde ausfiel.
Ja, es stimmte, die Praxis existierte schon seit zehn Jahren nicht mehr. Wie seltsam, sie musste kurz nach Karis Behandlung geschlossen worden sein, als Kari gerade sieben gewesen war. Rasch warf Kari einen Blick ins Impressum – und fühlte, wie ein Ruck durch ihren Körper ging.
„Was ist, kommst du?“, rief Alice.
Noch immer stand Kari im Flur und fühlte sich komplett unfähig, sich zu bewegen, irgendetwas zu tun. „Nein … ich …“, stammelte sie.
„Du willst vielleicht den Bus verpassen, aber ich nicht“, wandte John ein.
Kari atmete einmal tief durch. „Sag den … sagt ihr bitte in der Schule Bescheid, dass ich krank bin? Erklärungen gibt´s später, okay?“
Sie beförderte ihren Rucksack zurück in seine Ecke am Eingang und stürmte an ihren verblüfften Erziehungsberechtigten vorbei in ihr Zimmer im ersten Stock.

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