Leseprobe aus dem „Panthergott“

Die Fortsetzung der „Jaguargöttin” trägt den Titel „Der Panthergott” – hier eine Leseprobe vom Anfang!

Begegnung im Dschungel

Er witterte die beiden Menschen, bevor er sie sah. Unschlüssig blieb Ecco stehen und spürte, wie seine Tasthaare sich vorwölbten und seine Ohren sich unruhig bewegten. Sollte er den Leuten ausweichen? Eigentlich hatte er das nicht nötig, dieser Teil des Regenwaldes war das Revier seines Clans und in seiner Panthergestalt gab es kaum jemanden, den er zu fürchten hatte.

Zu lange überlegt, schalt sich Ecco. Schon konnte er die beiden Frauen – eine mit grauen Strähnen im Haar, die andere jung, ein Äffchen hockte auf ihrer Schulter – durchs Blattwerk erkennen. Sie trugen rotbraune Stoffkleider, die ihre Schultern und Arme frei ließen, waren barfuß und balancierten geflochtene Körbe auf dem Kopf. Die Jüngere, die etwas dunklere Haut hatte als ihre Begleiterin und große braune Augen, bückte sich gerade nach einer Frucht, die von einem der Bäume abgefallen und noch nicht von Ameisen beansprucht worden war.

Als die Frauen ihn bemerkten, geriet der Korb der Älteren gefährlich ins Wanken und die Jüngere stieß einen kleinen Laut aus.

Irritiert blickte Ecco sie an. Das war kein Laut des Schreckens gewesen. Moment mal, freute sie sich etwa, ihn zu sehen?

Die Antwort bekam er zwei Atemzüge später, als die beiden sich vor ihm auf den Boden warfen. „Du bist der Gott, nicht wahr?“, fragte die Jüngere atemlos. „Du warst großartig bei dieser Audienz zusammen mit unserer Jaguargöttin! Wieso hast du die Stadt wieder verlassen?“

„Wir haben zu Euch gebetet und gehofft, dass du einen eigenen Tempel in Elámon bekommst“, fügte die ältere Frau demütig hinzu.

Oh, wunderbar. Auf seinen großen nachtschwarzen Pranken ging Ecco näher heran. Kreischend flüchtete das Äffchen von der Schulter des Mädchens ins Gebüsch. Wenigstens das hatte genug Verstand, um sich vor ihm zu fürchten.

Jetzt befand er sich keine drei Menschenlängen mehr von den beiden Stadtbewohnerinnen entfernt. Sie kauerten noch immer vor ihm, so, dass er nur noch ihren Scheitel sah; offenbar erwarteten sie ihr Schicksal. Wäre er kein Waldläufer und wirklich hungrig gewesen, er hätte sie töten können, ohne sich anzustrengen.

Ecco seufzte. Ich muss ihnen sagen, dass dies hier keine gute Idee ist, dachte er, doch sie waren natürlich keine Wandler und verstanden keine Gedankensprache. Also rief er sich seine Menschengestalt vor sein inneres Auge – einen muskulösen jungen Mann mit breiten Wangenknochen und schulterlangem schwarzem Haar – und wartete, bis sich unter seinem Fell Muskeln und Knochen verschoben. Schon streifte ein Windhauch seine haarlose Haut, die Verwandlung war vollendet. Eine Stechmücke hatte es bemerkt und machte sich gierig daran, ihn anzufliegen. Mit einem Klatschen zerquetschte Ecco sie auf seinem Arm und schnippte ihre Überreste ins Gebüsch.

Ganz langsam, mit großen Augen, schauten die beiden Frauen hoch … und ihre Augen wurden noch größer. Ungeduldig riss Ecco ein Riesenblatt von einem Busch ab und hielt es sich vor die Körpermitte. Die Schamgefühle der Menschen waren so lächerlich.

„Ich bin keiner eurer Götter mehr“, sagte er zu den beiden. „Vielleicht bin ich es auch nie gewesen, das war nur eine Idee eurer Jaguarfamilie.“

Die ältere Frau hob beide Handflächen und begann einen Singsang, den Ecco als Huldigung erkannte. Auch das noch.

„Es macht keinen Sinn, mich anzubeten; besser, ihr lasst den Unfug.“

Mit leuchtenden Augen betrachtete ihn das Mädchen, nickte eifrig und berührte ein aufgemaltes Symbol auf ihrem Arm. Hatte sie auch nur einen Ton von dem wahrgenommen, was er gesagt hatte?

„Vielleicht wäre es klug, jetzt zu gehen“, legte Ecco ihnen nahe und fühlte ein Knurren aus seiner Brust aufsteigen. Na also, jetzt schauten sie ein bisschen erschrocken drein, aber sie verschwanden immer noch nicht. Also drehte sich Ecco selbst um und stapfte davon, bemühte sich absichtlich nicht, leise zu gehen.

„Wir haben ein Anliegen“, rief ihm die ältere Frau hinterher. „Ihr habt die göttliche Fähigkeit, Trost zu spenden. Bitte, Panthergott.“ Ihre Stimme sank zu einem Flüstern herab. „Mein Mann ist gestorben, wir waren so viele Jahre glücklich miteinander, die Trauer frisst mich von innen.“

Ach, verdammt. Ecco drehte sich um und diesmal fielen ihm auch die Schatten unter ihren Augen auf. Wie hager ihr Gesicht war, wie tief die Linien um ihren Mund. Unwillkürlich musste er an seine Großmutter denken und daran, was er dafür gegeben hätte, ihr einen solchen Kummer zu nehmen.

Das Mädchen lächelte hell wie die Sonne, als er zurückkam. Sie lächelte immer noch, als er grob den Unterarm ihrer Begleiterin fasste. Gleich würde sie enttäuscht sein. Er hatte keine Ahnung, ob er noch irgendwelche Fähigkeiten besaß oder ob sie in der Zwischenzeit irgendwie verflogen waren wie der Duft einer Blume oder eine kurze Verliebtheit.

Ecco konzentrierte sich, suchte die Kraft in sich und schickte sie als warmen Strom zu ihr hinüber. Und konnte es selbst kaum fassen, als er sah, wie die Linien im Gesicht der Frau sich glätteten, ihr Blick friedvoll wurde, ihre Lippen den bitteren Zug verloren. Ich kann es noch …

„Wir danken dir!“ Das Mädchen warf sich wieder vor ihm auf den Dschungelboden, auf dem abgefallene Blätter vor sich hin moderten.

Hastig kramte die ältere Frau in ihrem Sammelkorb. „Wir haben keine Opfergabe mitgebracht, aber nehmt diese Kakaofrucht! Wild am Fluss ist sie gewachsen, hier, Ihr müsst die Kerne nur noch rösten.“

Ecco hatte endgültig genug. „Opfergabe? Ich brauche nichts, das seht ihr doch! Geht jetzt und schaut nicht zurück!“, befahl er ihnen schroffer, als er eigentlich vorgehabt hatte. Seine Hand zerquetschte die harte Kakaofrucht, bis er die Kerne zwischen seinen Fingern hindurchglitschen fühlte.

Jetzt lächelte das Mädchen nicht mehr. Stattdessen blickte es fasziniert drein. Irgendetwas mache ich falsch! Immerhin zogen sich die beiden nun mit einem letzten, anbetenden Blick in den Dschungel zurück. Endlich hatte er wieder seine Ruhe.

Eigentlich. Warum fühlte er sich dann so ruhelos?

Vielleicht, weil die Begegnung so viele Erinnerungen in ihm hochgeschwemmt hatte. An ein Mädchen – nein, eine junge Frau – mit einem kraftvollen Körper, dreieckigem Katzengesicht und nussbraunen Augen, deren Blick ihm immer durch und durch gegangen war.

Kitana. Eine der Jaguargöttinnen von Elámon … eine Waldläuferin wie er selbst, nur mit geflecktem Fell.

Wütend auf sich selbst – wieso bekomme ich sie nicht aus dem Kopf? Sie hat sich gegen mich entschieden! –, verwandelte sich Ecco zurück und machte sich auf den Weg zu seinem Clan. Endlich war der Wald wieder dicht und grün, die Dürre war vorbei und die Brandrodungen hatten aufgehört. Die Jaguarleute hatten ein Machtwort gesprochen und verhindert, dass so etwas weiterhin passierte. Wenn er im Dschungel war, fühlte er sich gut, doch das blieb nie lange so.

Je näher er dem Lager seines Clans kam, das nur aus einem freien Platz mit fest gestampfter Erde im Schutz von Bäumen bestand, desto langsamer wurden seine Schritte. Er hörte spielerisches Fauchen und lauschte auf die Stimme seiner Cousine Amai, die offensichtlich gerade mit der kleinen Chula spielte. Vernahm die gemurmelten Gespräche der Alten, die beisammensaßen und dabei Knochen spalteten, um an das Mark heranzukommen. Witterte den Lehm vom Flussufer, den sich einer der Jäger seit Jüngstem in die Haare schmierte, weil das angeblich seinen Panthergeruch überdeckte. Manche entspannten sich als Panther, andere waren in Menschengestalt, damit sie ihre Hände benutzen konnten.

Soll ich umdrehen? Lieber wieder jagen gehen? Nein, dazu hatte er auch keine Lust und er hatte längst gerochen, dass einer seiner Gefährten Beute gemacht hatte. Also gesellte er sich in seiner zweiten Gestalt zu den anderen. Willkommensrufe ertönten, ein paar seiner Gefährten schenkten ihm ein Lächeln oder schickten ihm einen lautloses Gruß in den Kopf.

Na, wer hat diesmal Jagdglück gehabt?, fragte Ecco und rieb den Katerkopf an Amais schmaler Wade. Sie hatte ihre Haare gerade erst wieder geschnitten, Fremde hielten sie gelegentlich für einen Jungen.

Deine ehemalige Gefährtin, informierte ihn Amai und verzog mitfühlend das Gesicht.

Izora. Sie war ausgerechnet die neue Partnerin seines Bruders, des Clanführers, geworden.

Und genau der kam gerade auf ihn zu. „Du warst lange weg“, sagte sein Bruder, wie so oft klang seine Stimme missbilligend. „Hast du nichts mitgebracht?“

Sagt bloß, ihr habt mich vermisst, gab Ecco zurück, so als sei es ein Witz; seine Muskeln hatten sich angespannt.

„Ja, haben wir, du Holzkopf.“ Amai knuffte ihn freundschaftlich und legte die Hand auf sein Rückenfell. „Noíl, was genau ist schlimm daran, dass er lange weg war? Er hat nur ein paar schlechte Witze verpasst.“

„Es wäre eben schön, wenn sich auch mein Bruder an Absprachen halten würde“, kam es zurück.

Was für Absprachen?, knurrte Ecco. Fest vereinbart haben wir gar nichts! Du hast nur beiläufig den Vorschlag gemacht, nicht länger als zwei Tage im Wald zu bleiben!

Es schien unendlich lange her, dass sie sich ausgesprochen und versöhnt hatten. Auch diesmal spürte Ecco, wie die Wut in ihm hochkochte. Doch dann tappte seine Großmutter – gerade ein mageres Pantherweibchen mit losem Fell – zu ihm herüber und schleckte ihm über die Schulter. Und als er sich am Rand der Lichtung niederließ, rannte Chula herbei, sprang ihn an und tat knurrend so, als wollte sie ihn niederringen.

Aua, ich gebe auf! Amüsiert ließ sich Ecco auf die Seite fallen, als hätte sie ihn besiegt. Ganz langsam schaffte er es, sich zu entspannen. Nein, er würde ihnen nicht von der Begegnung im Dschungel erzählen – viel zu peinlich. Die anderen fanden es sowieso schwer verständlich, wieso er eine Zeit lang in der Stadt als Gott aufgetreten war.

„Wir haben einen Schenkel für dich aufgehoben, Ecco.“ Izora brachte ihm ein Stück Capybara, ohne sich anmerken zu lassen, was ihr durch den Kopf ging. Es tat fast nicht mehr weh, sie anzusehen, aber warum hatte sie sich unbedingt für seinen Bruder entscheiden müssen? Was hat der Kerl, das sie bei mir nicht gefunden hat?

Trotzdem nahm er die Beute an. Wortlos nickte er Izora zu, legte die Pranke über das Fleisch und grub die Fangzähne hinein.

„Haha, man sieht, dass du Hunger hast … normalerweise bedankst du dich etwas wortreicher“, meinte Amai und die anderen Clanmitglieder blickten neugierig in seine Richtung, warteten darauf, wie er reagieren würde.

Ecco gab auf. Danke, ist sehr saftig, murmelte er in die Richtung seiner ehemaligen Gefährtin.

Sie hatte sich von ihm getrennt, kurz nachdem er aus Elámon zurückgekehrt war und sie gemerkt hatte, dass sie doch nicht wie gedacht schwanger war. Ihre Worte hallten noch in ihm nach. Es ist jemand anders in deinem Herzen. Glaubst du, ich hätte das nicht gespürt? Eigentlich ist es vorbei zwischen uns, du willst es nur noch nicht wahrhaben. Ich hätte dich schon eher verlassen, wenn ich nicht geglaubt hätte, schwanger zu sein!

Lag es an Izora, dass er es in diesem Clan kaum noch aushielt? Oder an den anderen? Er war mit diesen Leuten aufgewachsen und hatte manchmal das Gefühl, dass er sogar wusste, wie die Innenseite ihres Fells aussah. Sie wiederum kannten jedes seiner Tasthaare, jede seiner Krallen – auch die dritte vorne links, die nicht richtig nachwuchs –, jeden Ausdruck in seinen mondgelben Augen. Der Clan war die einzige Familie, die er hatte … und doch fühlte es sich manchmal an, als würde er hier gleich ersticken.

Nein, verdammt, es ist nicht ihre Schuld, es liegt an mir. Ich habe meinen Platz im Leben noch nicht gefunden, das ist es. Es genügt mir nicht mehr, im Clan zu leben.

Schon nach kurzer Zeit erhob sich Ecco wieder, schickte den anderen einen kurzen Abschiedsgruß in die Köpfe und glitt hinein in der Wald. Wohin gehst du, Junge?, brummte seine Großmutter und schnupperte an der gärenden Pampe, aus der einmal Schnaps werden würde.

Weiß ich noch nicht, log Ecco.

Sein Ziel war ein verbotener Ort.

Je weniger die anderen darüber wussten, desto besser.

 

 

Ein sehr junger Gott

Schritt für Schritt erklomm Kitana an der Seite ihres Bruders die Stufen des Jaguartempels, während der Klang von Muschelhörnern und Trompeten sie begleitete. Der Geruch nach Räucherharz hing in der Luft – selbst nach all diesen Jahren mochte Kitana ihn noch immer nicht, aber das Zeug gehörte leider bei den wichtigen Zeremonien dazu.

Aus der Menschenmenge stieg ein Murmeln auf, die Leute waren gespannt. Es war so viel passiert im letzten halben Jahr, der König war vom Ersten Priester Elámons und seinen Anhängern ermordet und Elámon vom benachbarten Stadtstaat Quimal und dessen Schlangengöttern erobert worden. Doch Kitana und Ecco hatten verhindern können, dass die Eroberer die Macht übernahmen, und in Schande hatte der ehemalige Erste Priesterdie Stadt verlassen müssen. Mehr als hundert Menschen hatten den Tod gefunden. Ihr Volk brauchte dringend Trost und neue Zuversicht.

„Bin ich auch wirklich feierlich genug?“ Unsicher blickte Elki sie von der Seite an – mit diesen hellgrünen Augen, die aus ihrer Familie nur er besaß. Unruhig strich er sein schulterlanges dunkelbraunes Haar zurück und hätte dabei beinahe seinen Feder-und-Perlmutt-Kopfschmuck aus der Balance gebracht. „Ein Jaguargott muss allzeit …“

„… würdevoll auftreten, ich weiß.“ Kitana schmunzelte, während sie die Plattform an der Spitze des Tempels betraten. „Keine Sorge, du siehst aus wie ein König des Waldes und musst einfach nur du selbst sein, dann wird schon alles klappen.“

„Ich selbst? Haha.“ Elki zog eine Grimasse, die nur sie sehen konnte, weil sie den Leuten noch den Rücken zuwandten. „Normalerweise würde ich mich nicht mit Ketten und Armreifen behängen, die so viel wiegen wie zehn Steine. Oder mich einreiben mit dieser blöden …“

Kitana hob die Augenbrauen. „Immerhin darfst du sagen, was dir durch den Kopf geht. Mir haben Vater und Großvater noch beigebracht, dass ich fast nur rituelle Worte sprechen soll.“

„Stimmt, das ist …“

„Still! Es geht los!“

Sie konnte seinen raschen Atem neben sich spüren. Ihr jüngerer Bruder war ebenso nervös, wie sie bei ihrem ersten Auftritt vor dem Volk vor sechs Sommern gewesen war. Ganz bewusst hatten die Jaguarpriester die Audienz sehr kurzfristig angekündigt, damit nicht so viele Leute kamen, außerdem war die Sonne gerade erst aufgegangen. Trotzdem warteten mehrere Dutzend Menschen darauf, den Segen des neuen Jaguargottes zu empfangen.

Ein Gott zu sein, war nicht leicht. Sie selbst war siebzehn und hatte Übung darin, doch für Elki war alles neu. Kein anderer Zehnjähriger in Elámon würde so viel Macht haben wie er, aber auch so viel Verantwortung. Wie würde er damit zurechtkommen? Ihre Mutter hatte erzählt, dass es Wandler in anderen Stadtstaaten gab, die daran zerbrochen waren. An den Erwartungen, den Intrigen oder daran, dass sie zu viel von sich gegeben hatten.

Während sich die diensthabenden Priester vor ihnen verbeugten, wisperte Kitana ihrem Bruder ins Ohr: „Denk dran, du darfst dich nicht überanstrengen. Setz deine Kräfte höchstens ein- oder zweimal in jeder Audienz ein, sonst bist du danach völlig erschöpft.“

„Jaja, weiß ich“, kam nur zurück. Elki war ein bisschen stachelig in letzter Zeit.

Verehrt wurden die Wandler nicht nur wegen ihrer Fähigkeit, zwischen Menschen- und Tiergestalt zu wechseln oder deswegen, weil sie angeblich der Unterwelt entstammten, sondern weil jeder von ihnen ein besonderes, göttliches Talent hatte. Eine Kraft, die nur sie besaßen, aus welchen Gründen auch immer. Meine gefällt mir ganz gut, ging es Kitana durch den Kopf. Menschen über sich hinauswachsen zu lassen, das ist etwas sehr Schönes … wenn ich nicht den Falschen dafür auswähle.

Ihre Mutter vermochte, pures Glück zu schenken. Und Elki hatte sich erst vor wenigen Monaten als Friedensbringer herausgestellt, er konnte den Menschen Wut und Ärger aus dem Herzen ziehen und damit Gewalt verhindern. Das ist die schönste Fähigkeit von allen!

Genau beobachtet von den Priestern, die die Zeremonie leiteten, winkte Elki den ersten Bittsteller die Stufen hinauf. Doch Kitana musterte nicht ihn, sondern die Gesichter ihrer Helfer. Ihr bester Freund und Verlobter Axar war da, eine hochgewachsene Gestalt mit kurzem, strubbeligem braunen Haar, das gerade von seinem Kopfschmuck verdeckt wurde. Eine warme Welle schwappte durch sie hindurch, als sie ihn sah. Wieso hatte sie so lange nicht begriffen, dass er mehr für sie war als ein Kindheitsfreund?

Heute wirkte Axar ungewöhnlich ernst und förmlich. Doch dann lächelte er Elki ermutigend zu und danach ihr … und plötzlich war Kitana beruhigt. Kann ich mich auf ihn verlassen? Ja, kann ich – immer!

Die erste Bittstellerin war eine Frau, die sich vor Elki auf die steinerne Plattform warf und ihm als Opfergabe ein Säckchen voll Salz hinschob. „Junger Gott, deine Schönheit und Gnade sind unvergleichlich!“

Kitana spürte ein Lachen in ihrer Kehle aufsteigen und merkte, dass auch Elki ganz kurz davor, loszukichern – er presste die Lippen zusammen und sein Gesicht lief so rot an wie der Hals eines Truthahns. Zum Glück sah es die Bürgerin nicht. „Spende mir deinen Segen!“, bat sie.

Mach schon, dachte Kitana, denn die Schlange am Fuß der Pyramide wurde immer länger. Doch ihr Bruder war neugierig wie alle jungen Katzen. „Woher hast du das Salz? Du bist von der Küste, oder?“

Verwirrt dadurch, dass der Gott sie ansprach, hob die Frau den Kopf. „J-ja, so ist es.“

„Ich dachte, ihr betet Leguangötter an.“

„Das stimmt, doch man sagt, ihr Jaguare seid mächtiger und freundlich noch dazu!“

Zutraulich geworden, begann die Frau vom Meer, vom Perlmutthandel und ihrer liebsten Haargestalterin zu erzählen. Kitana stöhnte innerlich. Sie teilverwandelte ein Stück Haut auf ihrem Rücken, sodass sie mit ihrem Bruder von Kopf zu Kopf reden konnte. Ich verstehe, dass dich das interessiert, aber siehst du, wie viele Leute noch warten?

Elki gab ebenso lautlos zurück: Hast du gewusst, dass auch große Schwestern einen nicht hetzen dürfen? Aber dann bequemte er sich doch dazu, der Frau den Segen zu erteilen, ohne Mühe teilverwandelte er seine Hand zur Jaguarpranke und legte sie ihr auf die Schulter. Zufrieden zog die Bürgerin ab und ihre Opfergabe wurde von den Priestern weggebracht.

Der nächste Bittsteller war einen weißhaariger, mächtiger Baumeister aus der Grüne Jade-Familie, dem widerwillig zwei mürrisch wirkende Frauen folgten. Eine von ihnen zog an einer Leine ein Langschwanzwiesel hinter sich her, das neben ihnen die Stufen hochgehüpft war. Es trug ein mit Edelsteinen besetztes Halsband.

Die drei Menschen verbeugten sich, dann begann der Baumeister: „Meine Töchter sollen erben, was ich besitze, aber sie streiten sich ohne Unterlass. Das macht mich traurig und ratlos. Könnt Ihr uns helfen, Jaguargott? Ich habe gehört, Ihr seid ein Friedensbringer.“ Skeptisch betrachtete er Elki, der auf einmal furchtbar klein und jung wirkte, wie er auf seinem steinernen Thron saß, dann wanderte sein Blick Hilfe suchend zu ihr. Doch Kitana sagte nichts, hielt sich im Hintergrund und wartete ab, was ihr Bruder tun würde. Große Schwestern durften auch nicht reinreden, nicht hier, nicht heute.

Es war sowieso nicht leicht, zu Wort zu kommen.

„Sie macht mich hinter meinem Rücken schlecht, warum soll sie seine Schätze erben?“, ereiferte sich die eine Tochter. Ihr zahmes Wiesel versuchte neugierig schnuppernd, die Plattform zu erkunden, doch sie zerrte es mit einem Ruck zu sich.

„Wenn man nicht mit Geld umgehen kann, sollte man nicht erwarten, mehr als das Nötigste zu bekommen“, erwiderte die andere, kostbar gekleidete.

„Du vernachlässigst unsere Eltern und hast es doch auf ihre Villa abgesehen!“

Schon war der Zank in vollem Gange.

Ungläubig beobachteten Kitana, die Priester und Elki das Schauspiel. „Ihr wagt es …“, fuhr Axar die beiden Frauen an, doch Elki hob die Hand, unterbrach ihn.

Kitana war gespannt – würde er seine Fähigkeit einsetzen? Schlecht wäre das nicht, dieser Baumeister war eine wichtige Persönlichkeit in Elámon, der Tempel der Weisheit war sein Werk. Doch ihr Bruder überraschte sie. „Die Lösung ist einfach“, meinte er gleichmütig. „Wenn ihr euch nicht hier und jetzt einigt, wer was bekommt, machen wir es einfach so, dass das Vermögen eures Vaters an den Tempel fällt. Dann gibt es keinen Grund mehr für euch zu streiten.“

Sprachlos blickten alle Beteiligten Elki an. Zwanzig Atemzüge später war der Fall geklärt. Aber noch nicht ganz, wie Kitana mit einem Blick auf das sich gegen die Leine sträubende, fiepende Wiesel klar wurde. Das arme Tier, dachte sie mitleidig.

Schon ergriff ihr Bruder wieder das Wort. „Lasst dieses Wiesel frei. Es ist ein wildes Tier und leistet euch nicht freiwillig Gesellschaft. Seht ihr nicht, dass es ihm nicht gut geht?“

„Aber mein Mann hat es mir geschenkt und es erheitert mich“, wagte die Frau einzuwenden.

Elkis Miene hatte sich verdüstert. „Wir Götter sind nicht nur Menschen, deshalb sind wir die Beschützer der Tiere“, sagte er vorwurfsvoll. „Wir sorgen dafür, dass es allen gut geht, den zahmen und den wilden. Also los, worauf wartet Ihr?“

„Verzeiht uns“, erwiderte der Baumeister und beeilte sich, dem Wiesel das Halsband abzustreifen. Es senkte seine Zähne in seinen Finger und huschte dann gut gelaunt davon … in eine ganz andere Richtung als die drei Menschen, die sich unter vielen Verbeugungen zurückzogen.

„Gut gemacht“, flüsterte Axar Elki zu und kam damit Kitana knapp zuvor.

Elki wandte sich ihnen zu, suchte ihren Blick und sie sah, wie gut gelaunt er war, überhaupt nicht belastet von diesen Konflikten. Sie war beeindruckt … und erleichtert. Vielleicht ist Elki für diese Rolle geboren, flüsterte eine kleine Stimme in ihrem Inneren.

So, wie Ecco, dieser wilde junge Panther, offensichtlich nicht dafür geboren war – und doch hatte er die Menschen in Elámon beeindruckt wie kaum ein anderer vor ihm.

Hör auf, an ihn zu denken – er ist weg, wahrscheinlich für immer, befahlt sich Kitana. Und das ist auch besser so, schließlich heirate ich bald Axar.

Noch gab es kein Datum für die Hochzeit, die Sternkundigen hatten zwar einen glückbringenden Tag errechnet, doch Axar – selbst ein Sternenpriester im Jaguartempel – war nicht mit ihnen einer Meinung gewesen und so hatten sie die Zeremonie verschoben. Wieso arbeitete er eigentlich so viel in letzter Zeit? War es ein Fehler gewesen, ihn zum Zweiten Priester zu ernennen? Ein so hohes Amt kostete viel Kraft.

Kitana lächelte zu Axar hinüber. Sie mochte diesen Kerl so unfassbar gern … nein, wirklich verliebt war sie nicht in ihn, aber er hatte einen großen Platz in ihrem Herzen und sie waren sich so nah, wie es nur die besten Freunde sein konnte. Mit ihm verheiratet zu sein, würde schön sein. Während der nächste Bittsteller die Stufen des Tempels erklomm, flüsterte sie ihm zu: „Verbringen wir den Abend zusammen?“

„Ja“, kam sofort zurück, doch glücklich wirkte er nicht. „Ich fürchte, wir müssen reden.“

Ein kaltes Kribbeln rieselte über ihren Rücken. „Was, wieso?“, fragte Kitana. „Ist irgendwas passiert?“

„So ist es.“ Jetzt war kein Irrtum mehr möglich, Axar wirkte gequält.

„Sag mir sofort, was los ist!“

Ihr alter Freund öffnete schon den Mund, da räusperte sich einer der anderen Priester. Inzwischen war der nächste Gläubige auf der Plattform angekommen, verschüchtert blickte er zwischen ihnen und Elki hin und her.

Kitana zwang sich zu einem gleichmütigen Gesichtsausdruck und einer erhabenen Haltung, doch es fühlte sich an, als würden in ihrem Kopf zwei Armeen aufeinander losgehen. Was in aller Welt konnte geschehen sein?

 

 

18 Kommentare

  1. Wow, das ist echt ein mega Buch. Ich bin erst etwas später auf die Reihe aufmerksam geworden, daher habe ich den ersten Band erst gestern fertig gelesen. Er war mega cool und spannend. Großes Lob an dich Katja, es zählt jetzt zu einer meiner Lieblings Bücher. ☺️ Momentan bin ich im Urlaub aber sobald ich zu Hause bin, werde ich mir den 2. Teil kaufen. Nach der Leseprobe bin ich echt gespannt, was alles passieren wird.
    Viele Liebe Grüße
    Malin

    Antworten
    • Hallo Malin,
      Sehr cool, dass dir die Jaguargöttin gefallen hat – ich wünsche dir ganz viel Spaß mit dem Panthergott!

      Viele Grüße,
      Sabine

      Antworten
  2. Hi freue mich mega auf den neuen Band, wird es einen dritten geben

    Antworten
    • Hallo Wavewhale,
      Nein, die Geschichte ist nach dem zweiten Band dann wirklich abgeschlossen. Ich wünsche dir ganz viel Spaß mit dem Panthergott!

      Viele Grüße,
      Sabine

      Antworten
  3. Irgendwie ist es fies von euch(Katja und Sabine) dass hier vor Erscheinung des Buches eine Leseprobe erscheint, weil das Buch so gut und spannend geschrieben ist das ich sofort viel mehr lesen als nur 2 Kapitel.?
    Ich hab mich total gefreut als ich gehört habe das es eine Fortsetzung geben soll, weil ich auch Teil 1 verschlungen habe ?
    Deswegen wollte ich mich auch kurz bei Katja bedanken weil sie so viele tolle und magische Bücher schreibt.
    Danke das du so viele Ideen hast!

    Antworten
    • Liebe Caraani,
      ja ich weiß es ist sehr fies, aber lange brauchst du auf den neuen Band ja nicht mehr zu warten. Das finde ich superschön, dass du Teil 1 verschlungen hast! Ich wünsche dir ganz viel Spaß mit Ecco und Kitana in Band 2.
      Ich habe noch sooo viele Ideen für neue Romane … ein weiterer Fantasyroman ist ja schon fertig, er heißt „Der Fuchs von Aramir“. Leider erscheint er erst nächstes Jahr.
      Viele Grüße,
      Katja

      Antworten
  4. Ich habe alle Bücher gelesen und freue mich schon auf Panthergott und Woodwalker Staffel 2 Band 3!?

    Antworten
  5. Liebe Sabine
    Woher hast du das Background Wissen und warum antwortest du auf Fragen die eigentlich nur Katja Brandis beantworten könnten?

    Antworten
    • Hallo Ciarán,
      Ich bin Moderatorin hier auf der Website, das ist mein Job 🙂 Die Fragen, die wirklich nur Katja beantworten kann, lasse ich ihr aber auch übrig – das, was ich so beantworte, lässt sich eigentlich immer schon irgendwo hier auf der Website oder zum Beispiel im Wiki finden, so viel „Background-Wissen“ ist das also nicht.

      Viele Grüße,
      Sabine

      Antworten
  6. super Leseprobe ?? freue mich schon mega auf das buch.
    war n bisschen sauer auf meine Mutter weil ich mir letztens den neuen band von Woodwalkers kaufen und dann hat sie zu mir gesagt ich muss warten bis zu meinem Geburtstag ? der ist jetzt ja zum glück bald…. werde es sicher ganz schnell durchlesen ☺?

    Antworten
    • Hi Lulu,
      wie cool, dass dir die Leseprobe gefällt (hab mich beim Schreiben auch richtig angestrengt …). Super, dass du bald Geburtstag hast, dann musst du nicht mehr so lange warten auf den neuen Band. Ich wünsche dir viel Spaß damit!
      Katzige Grüße,
      Katja

      Antworten
      • Hallo,
        meine Tochter hat vor kurzem die Jaguargöttin in einem Rutsch verschlungen und ist ganz begeistert. Nun möchte sie natürlich auch den 2.Teil der Panthergott lesen. Wir haben in diesem Buch aber eine Triggerwarnung gesehen, könnten sie mir sagen um welche Stellen es sich handelt , damit ich mir diese mal anschauen kann? Unsere Tochter ist 10 Jahre alt und kann es kaum erwarten weiter zu lesen.
        Danke für die Info.

        Antworten
        • Hi Katharina,
          freut mich total, dass deiner Tochter die Jaguargöttin so gut gefallen hat! Das ist halb so wild mit den entsprechenden Stellen im „Panthergott“, du findest sie auf S. 184 und 275. Du kennst ja deine Tochter am besten und kannst bestimmt beurteilen, was für sie noch zu hart ist und was nicht.
          Liebe Grüße,
          Katja

          Antworten
  7. Das hört sich wirklich sehr spannend an.
    Freue mich schon riesig auf den 2. Band

    Antworten
  8. Ich warte schon lange auf den 2.Band. Ich fand die Leseprobe richtig gut (also die zwei Kapitel)? Ich habe auch schon Wood- und Seawalkers gelesen, da warte ich auch auf den 3.Band der 2.Staffel. Ich mag alle Ihre Bücher, die ich von ihnen gelesen habe.

    PS:geht es in allen Büchern von Ihnen um Gestaltwandler?

    Antworten
    • Hallo Benedict,
      Sehr cool, dass dir Katjas Bücher so gut gefallen! Es geht bloß in den Walkers-Büchern und in der Jaguargöttin/dem Panthergott um Wandler, Katja hat aber auch noch eine Menge Bücher geschrieben, die gar nichts damit zu tun haben. Schau mal hier: https://www.katja-brandis.de/alle-buecher/

      Viele Grüße,
      Sabine

      Antworten
  9. Ich bin schon soooo gespannt auf das Buch ! Die Leseprobe klingt nämlich wirklich spannend ? ich kann es gar nicht mehr erwarten den 2. band zu lesen ???

    Antworten
    • Hi Mia,
      das freut mich total, ich wünsche dir ganz viel Spaß mit dem neuen Band (er geht bald in Druck)!
      Katzige Grüße,
      Katja

      Antworten

Antworten auf Benedict Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert