Ursprünglich wollte ich zeigen, was Rena eigentlich den ganzen Tag im Grasmeer macht. Aber die Szene im ersten Kapitel, in der sie einen Streit schlichtet, stellte sich als entbehrlich heraus, zumal mir dafür kein richtig witziges salomonisches Urteil eingefallen war.
Rena vermittelt im Grasmeer
Rena ging zurück in ihre Hütte. Obwohl es früh am Tag war, hatte sie schon Gäste. Sie sah auf den ersten Blick, dass das kein leichter Fall werden würde. Zwei Atemzüge später hatte sie das Verschwinden der Storchenmenschen bereits vergessen. Im Graszimmer, in dem sie Ihre Besucher empfing, hockten drei Menschen. Alle drei blickten drein, als hätten sie versehentlich in einen Bitterwurz gebissen. Einer war ein alter Mann, der so verschrumpelt aussah wie eine Frucht, die man zu lange in der Sonne hatte liegenlassen. Der zweite ein junger Kerl, der wahrscheinlich sein Sohn war, und als drittes ein Vogelzüchter mit strohblonden Haaren, die ihm bis über die Schultern reichten.
“Friede den Gilden”, sagte Rena, und der Züchter verneigte sich höflich. Er schien ein wenig erstaunt darüber, dass sie so jung war, erst achtzehn Winter. Zweifelnd musterte er sie. Wer wußte, was er über sie gehört hatte. Wahrscheinlich nur, dass sie eine berühmte Vermittlerin war. Viele Menschen auf Daresh kannten die Geschichten ihrer Reise, aber längst nicht alle.
Doch dann gab sich der Züchter einen Ruck. “…und Wohlstand ganz Daresh. Dürfen wir Euch um Rat fragen?”
“Ja, nur zu.” Das war, seit sie hier lebte, ihre Berufung – sie half Menschen, beriet. Dafür mochten und akzeptierten ihre Nachbarn von der Luft-Gilde sie. Rena schenkte ihnen eine Tasse Cayoral ein und lächelte. “Was ist euer Problem?”
“Mein Nachbar ist das Problem”, fauchte der Alte. “Er züchtet Vögel. Keine Pfadfinder, sondern diese miesen kleinen Piepmätze für die Feder-Ernte.”
“Meine Vögel sind die besten im ganzen Norden”, knurrte der Züchter. “Er muss es wissen, er fängt sie mir ja heimlich weg und frißt sie zweimal die Woche zu Abend.”
Rena begann zu begreifen, wo das Problem lag.
“Seine verdammten Biester ziehen mir ständig Halme aus den Wänden! Meine Hütte wird auseinanderfallen!”
“Das Ding war vorher schon hinüber!”
“Irgendwann murkse ich sie einfach ab…”
“Machst du doch jetzt schon, Schurke!”
“Das reicht jetzt”, sagte Rena entschieden, und die beiden Männer verstummten. “Was ist euer Vorschlag, wie man das Problem lösen könnte?”
“Er soll mir zwanzig Tarba im Jahr zahlen.” Die Äuglein des Alten glitzerten. “Davon könnte ich meine Hütte flicken lassen.”
“Auf gar keinen Fall.” Der Blonde schüttelte den Kopf. “Keinen müden Ruma bekommst du von mir!”
“Deine Hütte ist direkt neben seiner? Mitten im Dorf?” erkundigte sich Rena, und der Züchter nickte. Sie sah, dass er noch immer skeptisch war, ob sie ihm helfen konnte. Rena überlegte. Solche Situationen gab es zu genüge in den Dörfern. Nachbarn wurden aus lächerlichem Anlaß zu Feinden. Die einzige Lösung, die es dafür gab, war eigentlich, die beiden auseinanderzubringen. So weit wie möglich. In Gedanken versunken nippte sie an ihrem Becher Cayoral. Respektvoll gaben die drei Menschen ihr Zeit zum Überlegen. Schließlich hatte Rena einen Einfall. Ja, das konnte man mal probieren! Sie wandte sich an den Sohn, dem die ganze Schau sichtbar peinlich war. “Wo wohnt Ihr eigentlich?”
“Äh, am Rand des Dorfes”, sagte der junge Mann. “Wieso?”
“Warum tauscht ihr dann nicht einfach die Hütten? Ihr zieht neben euren Vater, der Züchter nach draußen. Dort ist sowieso mehr Platz für die Tiere.”
Verdutzt blickten sich die beiden Kontrahenten an. Der Alte tuschelte aufgeregt mit seinem Sohn, der Vogelzüchter zupfte nachdenklich an seinen Haaren. Dann sagte er vorsichtig: “Das könnte gehen. Wenn seine Hütte genauso gut ist wie meine. Ich danke euch für den Rat, Rena ke Alaak.”
Rena sah, dass er es ehrlich meinte, dass es nun nicht mehr wichtig war, wie alt sie war.
Dem Alten tat es sichtlich leid um den Vogelbraten und um die zwanzig Tarba, doch er konnte nicht ablehnen, ohne seinen Sohn vor den Kopf zu stoßen und vor dem Züchter zuzugeben, dass es ihm eigentlich nicht um die ausgezupften Grashalme ging. Als Dank ließ der Züchter einen Käfig mit zwei gefiederten Bewohnern da. Sie ahnten nicht, dass sie nur dazu geboren worden waren, um gegessen zu werden, und hüpften zwitschernd auf und ab. Seid froh, dass ihr nicht an jemand anders geraten seid, dachte Rena, öffnete das Käfigtürchen und sah zu, wie sich die beiden in den hellvioletten Himmel über dem Grasmeer davonmachten. Dann stellte sie den Käfig in eine Ecke und lugte noch einmal schnell nach nebenan. Da saßen schon wieder andere Leute, die ihren Rat wollten. Zwei junge Leute, eine ältere Frau… …und eine Gestalt, in einen dunkelblauen Umhang gehüllt, die Kapuze über das Gesicht gezogen.
Rena runzelte die Stirn. Wer konnte denn das sein? Sah nicht so aus wie ein Mensch der Luft-Gilde.
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