Leseprobe aus Feuerblüte 1 – Tochter der Flammen

Leseprobe aus Tochter der Flammen

1. Kapitel
Der zweite Bürge

Ich weiß, was sie vorhaben, dachte Alena ke Tassos. Sie lag auf dem Bauch an der Kante des Hügels und spähte hinunter auf die Straße, die sich durch den schwarzen Vulkansand zog. Neben ihr kauerte Cchraskar und witterte mit den feinen Sinnen des Iltismenschen nach rechts und links. Er und Alena blickten hinüber zu der anderen Seite der Schlucht – wenn man genau hinschaute, merkte man, dass dort Zarko und seine Getreuen hockten, die anderen Jugendlichen des Dorfes Gilmor. Sie hatten sich zwar gut versteckt, aber es war ein kalter Wintermorgen und Alena sah die Wolken ihres Atems.

„Sie warten darauf, dass ein Händler vorbeikommt“, flüsterte Alena.

Cchraskar nickte. Seine pelzigen Ohren zuckten amüsiert. „Na klarr“, knurrte er. „Warenlager auf vier Beinen zu sprengen macht am meisten Spaß.“

Alena grinste. Händler ritten meist auf Dhatlas, horngepanzerten Reptilien. Dhatlas waren riesig und stark, aber schreckhaft. Wenn sie Angst bekamen, gruben sie sich blitzschnell in den Boden um sich zu verstecken – wenn man nicht rechtzeitig absprang, riskierte man verletzt zu werden. Da auf der Handelsstaße, die mitten durch Tassos führte und westlich von Gilmor verlief, ein paarmal am Tag Reisende vorbeikamen, war Dhatlas-Erschrecken viele Winter lang eine von Alenas Lieblingsbeschäftigungen gewesen. Inzwischen fand sie es kindisch. Zarko dachte offensichtlich anders darüber.

„Ich höre was“, sagte Cchraskar und klaubte sich mit der Pfotenhand einen Floh aus dem braun- und cremefarbenen Fell.

Gespannt beobachteten sie, wie ein Dhatla am Anfang der Schlucht erschien und in ihre Richtung schlurfte. Noch war es zu weit weg um Einzelheiten erkennen zu können, aber Alena erkannte an seinem Gang, dass es schwer bepackt war und eine lange Reise hinter sich hatte. Ein einzelner Mensch saß inmitten der Waren auf seinem Rücken. Alena wusste, was Zarko tun würde. Er hatte nicht viel Fantasie. Er würde, wenn das Dhatla in der Mitte der Schlucht war, eine große Flamme neben ihm auflodern lassen. Das genügte normalerweise.

Langsam kam das Dhatla näher. Je mehr Alena von seinem Reiter erkennen konnte, desto nagender wurde das schlechte Gefühl in ihrem Inneren. Es war ein alter Mann der Luft-Gilde, sie konnte seinen kurzen weißen Bart erkennen. Er wirkte erschöpft. Wahrscheinlich hatte er in Tassos schon viel auszustehen gehabt und dachte jetzt nur daran, wie er sicher durch die Phönixwälder und ins grüne, freundliche Alaak kam. Bestimmt ahnte er nicht, dass ihm auch so nah der Grenze noch Gefahr durch die Feuer-Gilde drohte.

„Der wird bestimmt verletzt, wenn sich sein Dhatla eingräbt“, flüsterte Alena.

„Jedenfalls wird er lange brauccchen, bis er seinen Krempel wieder ausgebuddelt hat“, zischte Cchraskar. Spontan beschloss Alena, Zarko und seinen Leuten die Suppe zu versalzen – sie konnte die Kerle sowieso nicht ausstehen. Sie konzentrierte sich und murmelte eine Formel, die Feuer aus der Luft rief. Auf der Straße unter ihr erschien ein handhohes, sonnenhelles Flämmchen.

So müde der Händler auch war – er sah die Flamme und begriff sofort, dass es eine Warnung war. Hastig setzte er sich auf und trieb sein Dhatla an, das die kleine Flamme neugierig, aber ohne Angst beäugt hatte. Widerwillig begann das Reptil zu rennen; der Tritt seiner Säulenbeine ließ den Boden erbeben. Von der Anhöhe gegenüber erschollen Flüche. Zarko richtete sich auf und schüttelte die Faust. Alena sah, dass er sich in seiner Wut ziemlich weit zur Kante vorwagte. Und dass er eine Fackel neben sich gelegt hatte. Schwerer Fehler! Sie murmelte eine zweite Formel. Die Fackel loderte auf. Überrascht wich Zarko zurück. Die Kante bröckelte unter seinen Füßen. Seine Freunde schafften es im letzten Moment, Zarko an seiner Tunika zu packen. Sie wurde ihm halb über den Kopf gezogen dabei.

Verblüfft blickte der alte Händler auf den Jungen, der halbnackt über ihm baumelte, und duckte sich erschrocken hinter das hornige Nackenschild seines Reittiers. Zehn Atemzüge später verließ das Dhatla die Schlucht und war damit in Sicherheit. Auch Zarko hatte noch mal Glück gehabt. Zappelnd verschwanden seine Beine über der Kante der Schlucht. Er war nicht wirklich in Gefahr gewesen – der Abhang war nicht besonders steil. Aber es hätte sicher nicht viel Spaß gemacht, ihn hinunterzurollen.

Gut gelaunt krochen Alena und Cchraskar zurück in Richtung der Ebene und machten sich auf den Weg nach Gilmor. Kurz vor dem Dorf verabschiedete sich Alena von ihrem besten Freund. Halbmenschen wie er waren im Dorf nicht gerne gesehen. Alena fand das blödsinnig. Sie kannte Cchraskar seit ihrer Kindheit, sie waren zusammen aufgewachsen.

Als sie sich Gilmor näherte und die ersten schwarzen Pyramiden in Sicht kamen, wandten sich Alenas Gedanken langsam wieder ihrem Alltag zu. Vielleicht kam heute endlich die Nachricht, auf die sie schon seit Ewigkeiten wartete …

Sie hatte Glück. Als sie gerade hinter dem Haus ihre täglichen Übungen durchging, sah sie, wie ein Wühler aus der Erde hervorkam und auf sie zukroch. Schnell steckte sie ihr Schwert weg und nahm dem kleinen Tier die Nachricht ab, die es in einer silbernen Hülse am Hals trug. Das Zeichen des Rates war darauf eingraviert. Alenas Herz schlug schnell. Dieser Brief musste die Antwort auf ihre Frage sein!

Plötzlich hatte sie es gar nicht mehr eilig, das Ding aufzumachen. So viel hing von dieser kleinen Botschaft ab. Was war, wenn der Rat nicht erlaubte, dass sie schon jetzt Meisterin wurde, mit fünfzehn statt mit siebzehn? Alena sehnte sich danach, Meisterin zu werden. Endlich frei sein. Sich von niemandem mehr etwas vorschreiben lassen müssen. Außerdem wollte sie nicht noch länger darauf warten, dass sie endlich ihr Meisterschwert bekam. Das Schwert, das sie für den Rest ihres Lebens tragen würde.

Alena drehte die Hülse in der Hand. Sie war nur halb so lang wie ihr kleiner Finger. Ein paar Worte passten auf das Blatt in ihrem Inneren, mehr nicht.

Ihr Vater lugte durch die Tür. „Beim Feuergeist, mach das Ding auf, Allie!“, knurrte er. „Ich will wissen, wann ich dein Schwert fertighaben muss.“

Alena hasste es, wenn sich ihr Vater in ihre Angelegenheiten mischte. Sie war längst alt genug um selbst zu entscheiden, wann sie eine Nachricht aufmachte! „Ach, lass mich doch in Ruhe!“, schoss Alena zurück und stapfte in ihr Zimmer.

Das Zimmer lag an der Außenseite der schwarzen Pyramide und maß in jeder Richtung zwei Menschenlängen. Alena hatte die schräge Metallwand mit einer Drahtbürste bearbeitet, bis alle Rostflecken weg waren und sie sich unscharf darin spiegeln konnte. Wenn sie auf ihrem Bett lag, einer dicken Matte auf dem Boden, reichte sie manchmal hoch, um das kühle, geriffelte Metall der Seitenwand an den Fingerspitzen zu spüren.

Neben der Tür lehnte ihr Lehrlingsschwert, frisch poliert wie immer. Auf dem Boden lagen Grasmatten, abgewetzt von ihren nackten Füßen und grau von der Asche, die sie aus der Schmiede hereingeschleppt hatte. Doch so ein bisschen Asche störte niemanden, der wie Alena zur Feuer-Gilde gehörte.

Im Regal an der anderen Wand lagen ein paar Messer und Werkzeuge, die sie in den letzten Wintern geschmiedet hatte, ein paar zusammengefaltete Tuniken und die engen Hosen, die sie gerne trug. Außerdem das seltsam geformte Gehäuse einer Singenden Seeschnecke, die ihr Tante Nana mal mitgebracht hatte, und anderer Krimskrams. Dazu ein Dutzend Schriftrollen – das Sturmläufer-Epos, Barsoks Geschichte Dareshs, Heldensagen der Feuer-Gilde und vieles andere. Alena las alles, was sie in die Finger bekam.

Ihre wirklich wichtigen Sachen hatte Alena in einer ausgehöhlten Stelle der Schlafmatte versteckt. Gedichte, die sie selbst geschrieben hatte. Niemand wusste, dass es sie gab. Die Leute würden sie ja doch nur mit denen ihres Vaters Tavian vergleichen, und die waren wunderschön. Eine Kette, die Alena sich gemacht hatte – sie hatte dafür heimlich ein paar Brocken Telvarium aus dem Erzlager ihres Nachbarn genommen. Das war keine gute Idee gewesen, aber die Kette gefiel ihr immer noch. Die Kralle eines Rubinvogels, die ihr Cchraskar geschenkt hatte. Und dann noch der komplett erhaltene Schädel eines Wühlers, weiß und glatt und vollkommen.

Alena warf sich auf ihr Bett und starrte zur Decke. Schon nach kurzer Zeit hielt sie es nicht mehr aus. Mit zitternden Fingern pulte sie die Botschaft aus der Silberhülse und rollte das Blatt auseinander.

Tani, Gildenschwester,
die Arbeiten, die Ihr uns gesandt habt, sind ausreichend, um Euch zur Meisterschaft zuzulassen. Obwohl Ihr offiziell nicht alt genug seid.

Alena fühlte, wie das Glücksgefühl in ihr hochquoll wie Lava, ihr den Atem nahm. Doch dann las sie weiter.

Bitte gebt Bescheid, wer Eure beiden Bürgen sind. Dann seid pünktlich zur Wintersonnenwende im Turm des Rates und bringt Euer Meisterschwert mit.

Das Glücksgefühl zerstob. Alena stopfte die Nachricht in die Kapsel zurück und schleuderte das ganze Ding an die Wand. Bürgen zu finden. Das war das Problem. Sie hatte gehofft, es würde sich irgendwie von selbst lösen. Hatte es natürlich nicht. Sie musste noch einmal versuchen im Dorf herumzufragen. Einen Bürgen hatte sie immerhin schon – ihren Vater. Tavian ke Tassos. Aber selbst ein berühmter Schwertkämpfer und Schmied wie er konnte nicht wettmachen, dass niemand sonst für seine Tochter bürgen wollte.

Es klopfte an der Außentür der Schmiede. Alena regte sich nicht, blieb einfach liegen. Sie wollte jetzt niemanden sehen. Die Tür quietschte an rostigen Angeln, als ihr Vater öffnete. „Friede den Gilden, Marvy. Wie siehst du denn aus?“

Marvys Stimme klang schüchtern. Wie immer. „Ach, mir ist ein Holzklotz ins Feuer gefallen. Das gab ganz viele Funken.“

„Und dein Meister will dir keine neue Tunika kaufen? Obwohl da zwei Dutzend Löcher drin sind?“ Ihr Vater seufzte. „Sag Alena, sie soll dir einige von ihren Sachen geben.“

„Mach ich. Danke!“ Ein paar Atemzüge später schlüpfte das Mädchen in Alenas Zimmer, die Wangen noch gerötet von der Kälte. Alena hob nur kurz den Kopf und starrte dann wieder an die Decke. Marvy war dünn und hatte struppige Haare, die die Farbe von Steppengras hatten. Manchmal roch sie auch nicht allzu gut. Gelegentlich wünschte Alena sie hätte an diesem einen grässlichen Tag vor einem Winter nicht verhindert, dass ihr Meister Marvy wieder mal verprügelte. Seither lief Marvy, die einen Winter jünger war als Alena, ihr nach und war kaum abzuschütteln. Denn obwohl sich Marvys Meister bitter bei Alenas Vater beschwert hatte, hatte sich die Baumratte seither nicht mehr getraut zuzuschlagen. Er wusste genau, wer von ihnen beiden besser mit dem Schwert umgehen konnte. Nämlich Alena.

„Es heißt, du hast eine Nachricht bekommen“, sagte Marvy. „Vom Rat.“

In kleinen Ortschaften sprach sich alles so fürchterlich schnell herum. Es hatte keinen Sinn, zu lügen. „Ja“, sagte Alena und seufzte tief. „Sie wollen mich zulassen. Aber ich habe immer noch keinen Bürgen.“

„Ich würde für dich bürgen, wenn ich könnte!“

„Tja, nett von dir. Aber du bist nun mal keine Meisterin.“

„Hast du den Vater von Kilian und Jelica schon gefragt?“

„Hat keinen Sinn. Zu dem war ich mal frech. Das hat der kein bisschen vergessen, fürchte ich.“ Müde fuhr sich Alena durch die glatten rotbraunen Haare. Sie waren länger als bei Lehrlingsmädchen üblich und fielen ihr bis auf die Schultern. Es hatte viele Kämpfe mit ihrem Vater gekostet, bis er das akzeptiert hatte.

„Was ist mit Meisterin Kyria?“

„Die war entsetzt, dass ich deinem Meister gegenüber so respektlos war. Zu der brauche ich erst recht nicht zu gehen.“

„Oh“, sagte Marvy und schwieg eine Weile, dachte angestrengt nach. „Vielleicht der alte Dozek. Der mochte deine Mutter, hab ich gehört.“

Hoffnung keimte in Alena auf. „Ja, das wäre vielleicht was. Er ist zwar unglaublich alt, aber das macht ja nichts. Hauptsache, er bürgt für mich.“ Warum war sie nicht schon längst auf ihn gekommen? So weit sich Alena erinnern konnte, war er einer der wenigen Dorfbewohner, mit dem sie noch nie aneinander geraten war und der ihrem Vater seine Vergangenheit nicht vorwarf.

„Gut. Gehen wir“, sagte Alena, rollte sich mit einer geschmeidigen Bewegung von ihrer Schlafmatte und schnallte sich ihr Lehrlingsschwert um. „Ich muss zurück sein, bevor der erste Mond aufgeht. Kampftraining.“

Das Dorf Gilmor war nicht groß, nur ein paar hundert Menschen lebten hier. Fast alle waren Feuerleute; für alle anderen Gilden war der Norden von Tassos eine gefährliche Gegend. Schwarz wie Skelette ragten die Phönixbäume rund um den Ort in den Himmel, ihre schweren, öligen Äste gingen in regelmäßigen Abständen in Flammen auf. So düngten sich die Bäume selbst, nur so schafften sie es, in der kargen Gegend zu überleben. Gerade hüllte sich einer der Bäume rechts von ihnen in eine Feuerwolke. Alena genoss die Wärme und sog den herben Geruch nach Rauch und Harz ein. Schade, dass sie keine Zeit hatte, im Wald heimlich ein paar neue Formeln auszuprobieren. Neulich hatte ihr Vater ihr gezeigt, wie man Kaltes Feuer rief. Das war schwierig und gefährlich – also genau Alenas Sache.

Sie durchquerten das Dorf, Marvy immer einen Schritt hinter ihr. Auf halbem Weg sah sie, dass Zarko und seine Getreuen am Rand des Dorfplatzes herumhingen. Alle waren sie da – Zarko, Rayka, deren kleiner Bruder Olkie, Doreal, die Zwillinge Kilian und Jelica.

Rostfraß, dachte Alena alarmiert und sah sich nach einer Möglichkeit um, ihnen auszuweichen. Zarkos Leute waren die Letzten, denen sie jetzt begegnen wollte. Wahrscheinlich waren sie immer noch wütend und überlegten, auf welche Art sie sich am besten rächen könnten. Das konnte riskant werden! Aber es war schon zu spät, einen anderen Weg zu nehmen. Alena fühlte die Blicke, als sie und Marvy über den Platz gingen. Aber Zarko griff nicht an. Wahrscheinlich, weil Marvy bei ihr war. Ich wette, er will keine Zeugen, und wartet, bis er mich allein erwischt, dachte Alena.

Als sie endlich die verschlungenen Pfade jenseits des Dorfes erreicht hatten, atmete sie freier. Das Haus des alten Dozak lag außerhalb, ein ganzes Stück Fußmarsch entfernt. Er scherte sich wenig um das, was die anderen im Dorf taten. Brauchte er auch nicht. Sie kamen ja doch alle zu ihm, um Lederscheiden für ihre Schwerter anfertigen zu lassen. Darin war er ungeschlagen. Oder er war es jedenfalls gewesen.

Es schien unendlich lange zu dauern, bis Alena Schritte heranschlurfen hörte und sich die Tür vor ihnen öffnete. Mit trüben Augen spähte der alte Dozak, ein baumlanger Kahlkopf, auf sie herunter. „Friede den Gilden, Meister Dozak“, sagte Alena höflich und verbeugte sich.

Der Alte runzelte die Stirn und deutete mit einer langsamen Bewegung auf seine Ohren. „Ich bin’s, Alena – die Tochter von Tavian und Alix!“, brüllte Alena.

Verständnislos blickte der alte Dozak sie an. In seinem Blick war kein Funken des Erkennens. Marvy und Alena sahen sich an. Alena seufzte tief. „Tja, einen Versuch war’s wert.“

Als sie zurückkamen, war es schon fast Zeit für Alenas Unterricht. Hastig verabschiedete sie sich von Marvy und ging mit langen Schritten zu ihrem Haus zurück. Zu spät zum Essen heimkommen, die Arbeit in der Schmiede schwänzen, mit Blauem Feuer experimentieren – das ging alles noch. Aber zu spät zum Schwerttraining zu kommen war für ihren Vater eine Todsünde und bedeutete ein fürchterliches Donnerwetter.

Schnell zog sich Alena um und legte die schwarze Tracht an, die ihre Gilde zum Kampf trug. Sie nahm sich eins der hölzernen Übungsschwerter und ging hinaus zu dem kleinen freien Platz hinter der Schmiede. Tavian stand schon da und ging seinen eigenen Drill durch. Seine Bewegungen waren gedankenschnell und fließend, tänzerisch elegant, obwohl er seit einer schweren Verletzung leicht hinkte. Er ist verdammt gut – aber in zwei, drei Wintern bin ich auch so weit, dachte Alena trotzig und legte die Hände fest um das glatte Holz.

Sie versuchte sich anzuschleichen, ihren Vater zu überraschen. Doch Tavian hatte sie längst bemerkt. Mit einem hellen Laut trafen ihre Holzschwerter zusammen. Alena parierte den Schlag und ging zum Angriff über, legte ihre ganze Wut und Enttäuschung hinein. Zwang ihren Vater sich voll zu konzentrieren. Ein berauschender Gedanke durchschoss Alena: Vielleicht schaffe ich es diesmal, ihn zu besiegen. Ein einziges Mal nur, ein einziges Mal! Doch einen Atemzug später setzte sie einen Schlag falsch an. Mühelos blockte Tavian ihn ab und hebelte Alenas Schwert nach unten. Die Holzspitze bohrte sich in den schwarzen Sandboden. Alena war froh, dass bei ihren Übungen nie jemand zusehen durfte. Das war ein Anfängerfehler gewesen.

„Du bist nicht bei der Sache“, sagte ihr Vater. „Was stand in diesem Brief?“

Die trotzige Antwort lag Alena schon auf der Zunge. Heraus kam dann doch die Wahrheit. Als könnte ihr Vater einfach so alles in Ordnung bringen. „Sie wollen einen zweiten Bürgen. Ist ja klar. Aber ich weiß nicht wen, ich habe schon jeden gefragt.“

„Hm, vielleicht kenne ich jemanden, der es machen würde“, sagte Tavian. „Jemand, den du zum Glück noch nicht vergrätzt hast.“

„Wer?“ Alena ließ das Holzschwert sinken. Sie konnte sich jetzt nicht auf den Kampf konzentrieren.

„Deine Tante Nana.“

Alena bekam einen Lachkrampf. „Das meinst du nicht ernst, oder?“

Ihr Vater lächelte. „Doch, und ob. Die Frau, die du Tante Nana nennst, ist in Wirklichkeit nicht mit uns verwandt und heißt Rena ke Alaak. Hast du das nie mitbekommen?“

„Tante Nana ist Rena ke Alaak?“ Alena kam sich dumm vor. Vielleicht hatte sie einfach nie danach gefragt. Oder sie hatte es wieder vergessen. Als Kind hatte ihr dieser Name sicher nichts gesagt. Doch inzwischen kannte sie die Geschichten alle. Wie Rena, damals ein Mädchen in Alenas Alter, die geheimnisvolle Quelle berührt hatte. Wie sie aufgebrochen war, um die vier verfeindeten Gilden Dareshs – Feuer, Wasser, Erde und Luft – zum Frieden zu bewegen und der skrupellosen Regentin Einhalt zu gebieten. Wie sie und das Volk von Daresh das mit der Hilfe von Alix, Alenas Mutter, tatsächlich erreicht hatten. Wie Rena später, als ein Bürgerkrieg zwischen Menschen und Halbmenschen drohte, das fast Unmögliche geschafft und zwischen beiden Seiten vermittelt hatte. Es war nicht ganz einfach, diese strahlende Heldin mit der Tante Nana zusammenzubringen, die Alena kannte.

Doch dann fiel Alena etwas Fürchterliches ein. „Ich denke, sie gehört zur Erd-Gilde?! Kann sie da vor unserem Rat für mich bürgen?“

„Hm, ich hoffe schon. Seit dieser Sache mit der Regentin ist sie so eine Art Ehrenmitglied der Feuer-Gilde. Und sie war eine gute Freundin deiner Mutter. Es ist kein Zufall, dass dein Name so ähnlich klingt wie ihrer – du bist nach ihr benannt worden.“ Tavian blickte sie amüsiert an. „Einen berühmteren Bürgen hat hier im Dorf noch niemand gehabt. Glaubst du, du kommst damit klar?“

„Wart mal ab, ob sie es überhaupt machen will!“

„Jedenfalls schreibe ich ihr gleich eine Nachricht.“ Mit langen Schritten ging ihr Vater ins Haus zurück. Skeptisch blickte ihm Alena nach.

¤¤¤

Als Rena heimkam, war Tjeri mal wieder im Wasser. Er ließ sich gemütlich auf dem See treiben, eine winzige Gestalt in der Ferne. Rena wusste, dass er bald an Land kommen würde. Die Libellen, die sie umschwebten, und die Salamander, die sich zwischen den Stelzen ihres Pfahlhauses schlängelten, würden ihm Bescheid geben, dass Rena zurück war. Sie kochte eine Kanne Cayoral, zog ihren dicken Winterumhang enger um ihren Körper und setzte sich im Schneidersitz auf die Schwimmplattform vor dem Haus um auf ihn zu warten. Meist war das in dieser Jahreszeit kein Vergnügen, aber heute war ein milder Tag, nur an den Rändern des Sees glitzerte dünnes Eis.

Rena freute sich auf Tjeri – selbst nach vierzehn gemeinsamen Wintern noch. Sie hatten sich bei ihrer Reise durchs Seenland kennen gelernt, damals, als Rena die schwierige Aufgabe gehabt hatte, den Kontakt zu den Halbmenschen wieder aufzunehmen und einen Mord aufzuklären. Nach und nach war aus ihrer Affäre mit dem jungen Sucher und Agenten der Wasser-Gilde mehr geworden, viel mehr. Schon einen Winter später hatten sie, wie es die Tradition seiner Gilde war, eine Muschel mit ihren Namenszeichen versehen und so den Bund geschlossen. Seither lebten sie an der Grenze zwischen Renas Heimat Alaak und Vanamee, dem Seenland. In einem Haus, dessen Front in den See hineinragte und dessen Rückseite in die Flanke eines Hügels reichte.

Für jedes wichtige Ereignis ihrer gemeinsamen Zeit hatten sie – wie es Sitte war – ein kleines Symbol in die andere Seite der Muschel geschnitzt. Es waren schon fast zwei Dutzend, denn sie hatten eine stürmische Zeit hinter sich, voller Glück und Kummer. Es war ein harter Schlag gewesen, dass sie keine Kinder bekommen konnten. Und im letzten Winter hatte Rena sich dazu hinreißen lassen, mit einem der Männer zu schlafen, die zu ihr kamen um ihren Rat zu erbitten. „Wieso habe ich mich eigentlich all die Winter beherrscht, beim Brackwasser?“, hatte Tjeri sie angeschrien, als sie es ihm gestanden hatte. Bald darauf hatte sie erfahren, dass er seit neuestem mit einer hübschen blonden Frau aus seiner Gilde schwamm. Mit Mühe und Not hatten sie es geschafft, ihre Liebe zu retten.

„He, woran denkst du?“ Eine feuchte Hand kitzelte sie im Nacken. Mit einer übertriebenen Grimasse zuckte Rena zurück. „Du sollst dich nicht immer anschleichen, verdammte Blattfäule!“

„Ich bin ganz laut aufgetaucht“, behauptete Tjeri und küsste ihren Hals. Dann setzte er sich ihr gegenüber und nahm sich eine Tasse Cayoral. Seine verschmitzten dunklen Augen musterten sie. Er hatte sich kaum verändert, seit sie ihn kennen gelernt hatte, nur sein kurzes dunkelbraunes Haar war von ersten silbernen Fäden durchzogen. „Wie war’s im Ort?“

„Mal wieder Scharen von Leuten, die wollten, dass ich bei ihrem Streit vermittle. Das einzig Ungewöhnliche war eine Botschaft von Tavian. Er fragt, ob ich kommen könne. Alena braucht dringend einen Bürgen, damit sie die Meisterprüfung ablegen kann.“

„Und, wirst du’s machen?“

„Wahrscheinlich schon. Sie hat sonst niemanden.“

Tjeri hob die Augenbrauen. „Für diesen Wildfang willst du deinen guten Ruf aufs Spiel setzen? Das gibt nur Ärger.“

„Ich schulde es Tavian“, sagte Rena. Erklärungen waren überflüssig – Tjeri wusste, wovon sie sprach. Hätten Tavian und Alix ihnen nicht vor vielen Wintern beim Kampf um den Smaragdgarten geholfen, würde Alix noch leben – und Alena hätte noch eine Mutter. Unwillkürlich drehte Rena den breiten silbernen Ring an ihrem Finger. Der unscheinbare Kristall, der darin eingebettet war, hatte ihr damals den Weg zum Smaragdgarten gewiesen.

„Du kannst nichts dafür, dass es so gekommen ist“, sagte Tjeri und seufzte.

„Kann sein“, sagte Rena. Doch das änderte nichts an ihren Gefühlen. Außerdem war Tavian längst ein Freund geworden. Wenn er und Alix‘ Tochter sie brauchten – das hatte Rena sich schon vor langer Zeit geschworen -, würde sie für die beiden da sein. „Weißt du was, ich entscheide es vor Ort. Mal schauen, wie Alena sich entwickelt hat, seit ich das letzte Mal da war. Wann war das noch?“

„Als hier der große Sturm war und uns das verdammte Dach weggeflogen ist. Häuser sind furchtbar unpraktisch.“

Rena lächelte. Die Menschen der Wasser-Gilde bewohnten Luftkuppeln tief unten in Seen. „So lange ist das schon wieder her? Noch ein Grund mehr, mal wieder vorbeizuschauen. Ich reise in den nächsten Tagen los. Mit etwas Glück bin ich in zwei Wochen zurück. Ist ja keine große Sache.“

Sie ahnte nicht, wie sehr sie sich damit irrte.

1 Kommentar

  1. Ich freue mich das Buch zu lesen.

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