Raketen und Planeten
Ich wusste, dass Rocket in unserem Viertel wohnte, weil ich mal gesehen hatte, wie er aus einem Haus gleich neben dem kleinen Lebensmittelladen gekommen war. Was würde er machen? Mich angreifen, mir die Tür vor der Nase zuschlagen? Vielleicht wusste er längst, was er war. Oder ich hatte mich einfach geirrt. Alles möglich.
Schnell vergewisserte ich mich, ob Rockets gewalttätiger Kumpel Logan in der Nähe war. Zum Glück nicht. Also klingelte ich an der Tür mit dem Schild Albright daran und vergrub dann nervös die Hände in den Hosentaschen, während ich wartete. Doch es war nicht Rocket, der öffnete, sondern ein etwa neunzehnjähriges Mädchen mit dunkelbraunen gesträhnten Haaren und Pickeln.
„Ist Rocket daheim?“, fragte ich.
Ihr Mund verzog sich. „Wer? Ach, du meinst Edward. Dieser Spitzname ist so albern! Was willst du denn mit dem Loser? Du bist doch keiner seiner nichtsnutzigen Freunde, oder? Die Deppen kenn ich alle.“
„Äh …“
„Außerdem muss er noch das Bad putzen. Wenn er denkt, ich und Shaniqua wären sein Hotelteam, dann hat er sich so was von geschnitten!“
Ich hätte nie gedacht, dass Rocket mir mal leid tun würde. „Vielleicht könnte ich ihn trotzdem kurz sprechen?“
„Edddddwaaard!“, brüllte sie in die Tiefen des Hauses.
Da war er schon. Ein schmaler Junge mit Bartflaum, braunen Augen, die unruhig hin- und herwanderten, schiefen Zähnen und einer spitzen Nase. Er glotzte mich an, als könne er nicht fassen, dass ich mich hertraute. „Na, das ist ja ´n Ding“, sagte er schließlich, als ich immer noch nicht weggelaufen war. „Willst du dich rächen für die Gesichtsverschönerung? Ist doch toll verheilt.“
„Ja … nein … ich meine, ja, es ist gut verheilt, und nein, ich will mich nicht rächen“, sagte ich schnell und versuchte zu erspüren, ob er wirklich ein Wandler war. Aber meine Begabung dafür war ziemlich schwach, aus dieser Entfernung nahm ich nichts wahr. „Ich wollte dich nur was fragen.“
„Was machst du überhaupt hier? Ich dachte, du wärst jetzt in so´nem schicken Internat, Klugscheißer.“
Das traf mich dann doch. „Wieso ›Klugscheißer‹? Ich hab mich nur am letzten Tag ein paarmal gemeldet, um an dieser Schule ´nen ehrenvollen Abgang zu machen.“
„Jaja, schon gut, komm rein, wenn´s sein muss.“
Anscheinend hatte er nicht nur eine ältere Schwester, sondern sogar zwei. Diejenige, die mir aufgemacht hatte, lag nun telefonierend auf dem Sofa, die andere zappte sich durch diverse Soaps mit künstlichen Lachern. „Eddie! Ich hab dir doch gesagt, du sollst das Bad putzen, aber du hast nicht mal angefangen“, schrie die zweite, deren Haare in einem unwahrscheinlichen Rotton leuchteten. „Du bist wirklich zu nichts nutze!“
Rocket schoss einen groben Ausdruck zurück und ging schneller. Vor seiner Zimmertür warf er mir einen drohenden Blick zu. „Wehe, du fasst was an.“
„Auf keinen Fall – mein Gesicht soll bleiben, wie es ist.“ Ich hob die Hände.
Im Zimmer roch es ein bisschen säuerlich-muffig und nach den alten Pommes, die in einer Packung auf dem Schreibtisch lagen. Als Erstes fiel mir auf, dass er wirklich viele Raketen- und Flugzeugmodelle hatte. Sie hingen von der Decke und standen auf Regalen, neben seinem Bett und auf dem zugemüllten Schreibtisch. Ein aus einem alten Basketball gebastelter Planet Saturn baumelte über meinem Kopf, die Ringe hatte er anscheinend mit Buntstift ausgemalt.
Als Zweites fiel mir auf, dass Rocket anscheinend furchtbar gerne Eis am Stiel aß und dann die Stiele zerkaute. Die Dinger lagen, von Zahnspuren übersät, überall herum.
„Willst du Astronaut werden?“, fragte ich ihn.
„Geht dich nichts an“, brummte er, doch sein Gesichtsausdruck wurde etwas freundlicher, als ich ein Modell der Apollo-Mondlandefähre bewunderte und „Wow, das ist wirklich cool!“ sagte.
„Kann sein. Also, was willst du?“
Ich musste näher an ihn herankommen, sonst spürte ich nichts! Also wanderte ich unter dem Vorwand, mir ein anderes Modell anschauen zu wollen, näher zu ihm. „Was ist das für ein Ding?“
„Russische Sojus.“ Leider wich er misstrauisch zurück. „Damit versorgen sie die Internationale Raumstation.“
„Würdest du gerne mal mitfliegen?“ Ich tat so, als hätte ich sein Zurückweichen nicht bemerkt, blieb kurz stehen und bewegte mich wieder in seine Richtung. Diesmal machte er einen Schritt zur Seite, um mir auszuweichen, und prallte mit dem Rücken gegen sein Bücherregal, in dem eine Menge Science-Fiction-Romane standen. Jetzt hatte ich ihn. Ich ging mit dem Kopf ganz nahe heran, wie um die Titel lesen zu können. Er bog den Oberkörper zurück und zog die Lippe hoch, als wolle er mich anknurren. „He, sag mal, warum genau rückst du mir so auf die Pelle?“
O Gott, wie peinlich. Ich machte ein paar Schritte zurück. „Sorry.“
Diesmal hatte ich ein bisschen was wahrgenommen. Einen Hauch des Gefühls, das ich aus der Schule kannte, von Jasper und den anderen. So was wie ein besonderer Geruch, den man nicht mit der Nase roch, sondern mit dem Kopf. Aber ganz sicher war ich mir immer noch nicht.
„Entweder du sagst jetzt, was du wirklich von mir willst, oder du fliegst raus!“ Rockets Stimme war hoch und ein bisschen fiepsig geworden.
Eine letzte Chance hatte ich noch. Ich tat so, als würde ich das Saturn-Modell anglotzten, stolperte dabei absichtlich-versehentlich und prallte voll auf Rocket.
„Was soll das?“, quiekte er.
Ja, diesmal war ich ganz sicher! Er war ein Wandler, so wie ich! Irre!
Gleich darauf war ich ihm noch mal richtig nah, weil Rocket mich nämlich am Kragen packte und zumindest versuchte, mich aus dem Zimmer zu schleifen. „Wusst ich´s doch, du hast irgendeine linke Tour vor – verpiss dich, aber schnell!“
Eigentlich war ich stärker als er, wie ich inzwischen wusste. Doch weil ich so abgelenkt war von dem, was ich herausgefunden hatte, schaffte er es tatsächlich, mich quer durchs Wohnzimmer bis zur Tür zu befördern. Seine Schwestern beachteten uns ungefähr so sehr wie zwei dreckige Fußabdrücke auf dem Teppich.
„Warte!“, rief ich, als ich schon fast draußen war. „Ich habe das nur gemacht, weil ich ganz sicher sein wollte.“
Geheimnis hin oder her, ich musste ihn warnen. Was, wenn er ein Seawalker war und zufällig irgendein Bild von seiner zweiten Gestalt sah? Dann flappte er plötzlich als kleiner Fisch auf dem Teppich herum und ging wahrscheinlich drauf. Und sein Tod wäre meine Schuld!
„Sicher? Wie, ›sicher‹?“
Ich senkte die Stimme. „Du bist einer von uns. Du hast besondere Eigenschaften!“
„Haha, sehr witzig“, sagte Rocket und funkelte mich an. „Ich wusste schon immer, dass ich ein Superheld bin.“
„Nein, im Ernst. Gehen wir wieder rein, dann erzähle ich es dir.“
Als wir schon wieder das Wohnzimmer durchquerten, schauten uns die Schwestern doch etwas erstaunt nach. „Edward, was ist jetzt mit dem verdammten Bade…!“, begann die eine und Rocket ging schneller. „Halt´s Maul“, murmelte er und knallte die Zimmertür hinter uns zu.
Ich erklärte ihm ganz in Ruhe, dass manche Leute eine zweite Gestalt als Tier hatten. „Meine ist Tigerhai. Aber das ist absolut streng geheim, verstanden? Ich sage es dir nur, weil du auch ein Wandler bist, so was kann man spüren.“
„Du bist ja dermaßen krank im Kopf“, beschwerte sich Rocket. „Du bist also ein Fisch – und ich vielleicht auch? Jaja, erzähl das deiner Oma!“
Inzwischen wusste ich zumindest theoretisch, wie das mit den Teilverwandlungen ging. Es war natürlich ein Risiko, ich wollte auf keinen Fall als Tigerhai hier im Zimmer stranden. Trotzdem probierte ich, meine Zähne zu verwandeln. Obwohl ich mein Haigebiss nur spürte – ein Spiegel war nicht in der Nähe –, muss es mächtig scharf ausgesehen haben. Rockets Augen wurden riesengroß und seine Haut bekam die Farbe von Käsecreme.
„Okay“, sagte er. „Okay. Krass. Aber ich bin so was nicht.“
„Doch“, versicherte ich ihm. „Willst du denn gar nicht wissen, was für eine zweite Gestalt du hast? Es könnte irgendwas richtig Cooles sein, ein Adler, ein Jaguar, ein Delfin oder so was. Du merkst, was du bist, wenn du dich zu der Tierart hingezogen fühlst und ein Kribbeln spürst, wenn du ein Bild des Tieres …“
„Kannst du jetzt bitte gehen?“ Rocket legte die Hände über die Ohren und drehte sich von mir weg.
„Na gut“, sagte ich, obwohl ich ein bisschen enttäuscht war. Ich war ziemlich neugierig gewesen, was für ein Tier er war. Aber ich konnte mir ungefähr vorstellen, wie er sich fühlte – mir war ähnlich zumute gewesen, nachdem mir Onkel Johnny vor ein paar Wochen die Wahrheit gesagt hatte. Schnell kritzelte ich meine Handynummer auf den Flyer eines Pizza-Lieferservice, der im Schreibtischchaos ganz oben lag. „Denk in Ruhe drüber nach und dann ruf mich an.“
„Hau ab!“, schrie er mir ins Gesicht.
Also ging ich.
„Wenn ihr noch oft hier hin- und herlauft, macht ihr einen Trampelpfad in den Teppich“, giftete die dunkelhaarige Schwester. „Edwaaaaard, mach jetzt endlich dieses verdammte Bad sauber, sonst …“
Hastig schloss ich die Haustür hinter mir.
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