Bethanior

In der Anthologie “Fantastische Weihnachten” (Hg. Wolfgang Hohlbein, Verlag Ueberreuter 2006)  ist meine Geschichte “Bethanior” erschienen (gedacht für Jugendliche ab 10).

Leseprobe

Martin Tenzer fuhr gerne U-Bahn, und er nahm sich dafür nie etwas zu Lesen mit. Wozu auch. In der Bahn gab es so viele seltsame Typen, dass man immer etwas zu gucken hatte, und die Gespräche waren oft so durchgeknallt oder dämlich, dass er sich innerlich kugelte. Aber etwas so Seltsames wie diesmal hatte er noch nie belauscht.
„Es kann praktisch nichts mehr schiefgehen bei unserem Plan“, flüsterte ein Mann ganz in der Nähe – er saß auf der Sitzbank mit dem Rücken zu Martin. „Sie sind jetzt überall in der Stadt verteilt, jeden Tag werden Dutzende an neue Orte gebracht.“
Martin zog sich die Wollmütze vom Kopf und spitzte die Ohren.
„Ohne dieses Fest hätten wir es schwerer gehabt“, meinte eine zweite Männerstimme. „Aber diese bunten Kugeln… perfekt. Sie sind groß genug und werden warm und gut belüftet frei schwebend aufgehängt…“
„Ja, das müsste wirklich reichen, damit sie problemlos schlüpfen können.“
Schlüpfen? Martin sträubten sich die Nackenhärchen. Ein Blick in die spiegelnde Scheibe der U-Bahn zeigte ihm, dass seine Sitznachbarn zwei sich sehr ähnlich sehende Männer waren. Sie trugen beide die gleichen, dunkelgrauen Wintermäntel mit identischen grünweißschwarz gemusterten Schals, hatten sehr kurz geschnittene hellblonde Haare und säuberlich gestutzte Schnurrbärte.
„Und dann ist“, – kurzes Auflachen des erstes Mannes – „jede Menge frische Nahrung in der Nähe, mit der sie sich stärken können.“
Ach du Scheiße, dachte Martin. Der Zug rauschte in die Station Sendlinger Tor ein. Hier musste Martin eigentlich raus, umsteigen. Ein halbes Dutzend Menschen drängte sich schon an den Türen, um möglichst schnell zu ihren Anschlusszügen zu kommen. Doch die beiden Männer blieben sitzen. Unruhig umklammerte Martin seine Gitarre. Er konnte doch jetzt nicht gehen! Er musste versuchen, mehr über diese eigenartige Verschwörung herauszufinden.
Egal, dann komme ich halt ein bisschen zu spät zur Gitarrenstunde, dachte Martin, während sich die Türen der U-Bahn sich zischend wieder schlossen. Aber die Männer sagten nicht mehr viel, tauschten nur ein paar Bemerkungen über die volle Bahn und den Weihnachtstrubel in der Stadt aus. Am Odeonsplatz stiegen sie schließlich aus. Martin drängte sich durch die Menge, um ihnen auf den Fersen bleiben zu können. „He, paß doch auf!“ schimpfte jemand, den er mit seiner Gitarrentasche angerempelt hatte. Martin murmelte eine Entschuldigung und hetzte weiter. Zu spät! Die beiden waren um eine Straßenecke gebogen…. und einfach weg. Keuchend blickte sich Martin um, aber sie waren nirgends mehr zu sehen.

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